Reiseführer durch eine Armutsgesellschaft

ahn. Das Buch ist wie ein Reiseführer aufgebaut: mit praktischen Informationen, hilfreichen Redewendungen («Govorite li nemacki?» – «Sprechen Sie Deutsch?») und auf robustem Papier gedruckt. Das Ziel der Reise ist allerdings ungewöhnlich. Es ist das die Elendssiedlung Gazela im Schatten

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ahn. Das Buch ist wie ein Reiseführer aufgebaut: mit praktischen Informationen, hilfreichen Redewendungen («Govorite li nemacki?» – «Sprechen Sie Deutsch?») und auf robustem Papier gedruckt. Das Ziel der Reise ist allerdings ungewöhnlich. Es ist das die Elendssiedlung Gazela im Schatten der gleichnamigen Brücke, welche die Sava im Zentrum Belgrads überspringt. In der Siedlung leben auf einem halben Quadratkilometer etwa 1000 Roma. Die Anfänge des Hüttendorfs gehen auf die frühen 1980er Jahre zurück, als Jugoslawien nach Titos Tod politisch und wirtschaftlich in eine tiefe Krise rutschte. Von der Not in die Hauptstadt getrieben, siedelten auf dem Neu-Belgrader Brachland zwischen Brücken, Flussufer und Hauptstrasse die ersten Roma-Familien aus Südserbien. Seither ist Gazela ein Schandfleck der Stadt, der nicht stört, weil er geflissentlich übersehen wird. Gazela ist eine Insel, auf der jene stranden, die der gesellschaftliche Mainstream immer wieder ausspuckt. Mit dem Reiseführer soll der Unort einen Platz bekommen, zumindest im Bewusstsein der Leser (die Übersetzung ins Serbische ist geplant).

Zwiespältige Besichtigung

Das Buch von Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü sieht nicht nur wie ein Reiseführer aus, es will auch einer sein. Ist Gazela eine Sehenswürdigkeit? Im eigentlichen Sinn des Wortes: ja. Mit dem Reiseführer ausgestattet, erhält man einen Einblick in den Alltag der Bewohner und lernt auch vieles über die serbische Mehrheitsgesellschaft, deren Rand die Siedlung markiert. Aber die Sache ist nicht unproblematisch. Denn die meisten Besucher werden sich fehl am Platz fühlen, wenn sie zwischen den Hütten aus Backstein, Plastic und Karton umherspazieren. Sollen sie den Coiffeur suchen, das einzige Gewerbe auf dem Areal? Oder die Wasserstelle begutachten, wo Frauen und Kinder mit Kanistern das oft verschmutzte Trinkwasser schöpfen? Technisch Kundige mögen sich für die abenteuerlichen Leitungen interessieren, mit denen die Bewohner Strom aus dem öffentlichen Netz für den Betrieb von Lampen, Fernsehern und, seltener, Kühlschränken zapfen. Soll man das Gespräch suchen mit den Siedlern, die neugierig oder misstrauisch die Fremden betrachten? Die Antwort versagt einem der Führer.

Jeder für sich und Gott gegen alle

Viel lernen kann man in diesem Buch über die Infrastruktur und die soziale Gliederung der Siedlung. Über die Familie als wichtigsten Solidarverband und über die Hierarchie dieser Elendsgesellschaft, die nach Herkunft, Beschäftigung und Aufenthaltsdauer unterscheidet – Armut macht nicht gleich. Eindrücklich dargestellt wird einer der Hauptgründe für das Elend vieler Roma: das Unvermögen, sich zu organisieren. Es scheint unmöglich, Macht zu delegieren und «Vertreter» zu bestimmen, welche sich für die gebündelten Interessen der Siedler in der Aussenwelt wehren. Wohl hilft man sich im Alltag immer wieder gegenseitig aus, doch letztlich überwiegt das Misstrauen in dieser erstaunlich heterogenen Gesellschaft.

Das Kapitel über Gesundheit zeigt, wie verheerend Feuchtigkeit, Hitze und Kälte, kaum gebremst durch die schlecht gebauten Hütten, auf die Körper der Siedler einwirken. Das tiefe Durchschnittsalter ist die direkte Folge der kurzen Lebenserwartung. Die Autoren bringen einen bekannten Teufelskreis treffend auf den Punkt: «Roma sind arm, weil sie arbeitslos sind, arbeitslos, weil sie ungebildet sind, und ungebildet, weil sie arm sind.» Einen zweiten Teufelskreis bilden die Benachteiligung in den Schulen und die von der Roma-Gesellschaft praktizierte Selbstausgrenzung vom Bildungswesen: Weshalb die Kinder zur Schule schicken, wenn sie mit Arbeit nützlich sein können? Eigentlich ist es nur die Musik (auf Hochzeiten, in Restaurants), mit der sich die Roma den Respekt der Mehrheitsgesellschaft erspielen können. Daneben gibt es immerhin Ansätze, die traditionell von Roma betriebene Abfallwiederverwertung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu modernisieren. Sie kommen – typischerweise? – von aussen. Eine eigentliche Roma-Elite gibt es kaum: Wer den sozialen Aufstieg schafft, verbirgt die Herkunft.

Etwas bemühend und im Grunde überflüssig wirkt die Selbstreflexion der Autoren: In einem Lauftext am unteren Seitenrand diskutieren Kulturschaffende mit ihnen die Frage, ob und wie das Verfassen eines Reiseführers ins Elend moralisch richtig sei. Das Resultat – Aufklärung – rechtfertigt den Ansatz jedenfalls voll und ganz. Gewünscht hätte man sich dagegen die Kommentierung der oft eindrücklichen Fotos. – Wer das Buch als Reiseführer benutzen will, muss sich beeilen. Die Gazela-Autobahnbrücke wird demnächst modernisiert, und die Roma darunter sollen umgesiedelt werden. Davon war allerdings schon 2005 einmal die Rede, ohne dass etwas geschah. Doch selbst wenn die Gazela-Siedlung verschwindet, verliert der Reiseführer seinen Wert nicht. Denn er ist auch ein «Sittengemälde» einer Armutsgesellschaft, die in ganz Europa verstreut in Tausenden ähnlicher Siedlungen lebt.